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Sardinien: Die sprechenden Wände von Orgosolo

Orgosolo war bis weit in das 20. Jahrhundert eine Hochburg des berüchtigten sardischen Banditentums, der erbittert ausgetragener Blutrache und deprimiernder Armut. 1969, als es schon wesentlich zivilisierter zuging, verhinderte die Bevölkerung den Bau eines Truppenübungsplatzes der Nato auf ihren traditionellen Weiden, indem sie sich kollektiv dem Militär entgegenstellte. Das war der Beginn der „Murales“, der Wände, die Geschichten erzählen.

Der Kampf des Dorfes gegen fremde Mächte ist ein Thema der Murales.

Anarchisten aus Mailand waren in das berüchtigte Banditennest gepilgert und hinterließen die erste Wandmalerei.  Vermutlich haben sie in der traurigen Tradition des Dorfes Ansätze für politische Agitation und eine Verwandschaft zu ihrer eigenen vorstellungen von politischer Auseinandersetzung gesehen. Viel ist nicht draus geworden – aber die Tradition der Murales war gegründet. Später begann ein Zeichenlehrer, der sich hier niedergelassen hatte, mit seinen Schülern die Geschichte des Ortes zu erzählen. Heute sieht man in Orgosolo ein faszinierende Mischung aller möglichen Stile und Geschichten. Die Murales werden zur Chronik.

Kubistisch anmutende Erzählungen und Verherrlichungen des Widerstandes des rebellischen Dorfes, kitschig-schöne Hirtenszenen, Kommentierungen politischer Ereignisse der letzten Jahrzehnte, Gedichte in sardischer Sprache, politische Agitation im Stil der Studentenbewegung der frühen 70er-Jahre  oder Popart. So hat das einstige Rebellennest seine Tradition hinübergerettet in eine neue Zeit, aber freundlicherweise Blutrache und Überfälle eingestellt. Viele Häuser stehen leer, der Ort leidet wie die meisten sardischen Dörfer erkennbar unter der Landflucht. Deshalb sind Touristen willkommen.

Auch andere Dörfer der Gegend haben ein paar „Murales“, aber hier sind sie ein Teil des Ortsbildes und werden sorgfältig gepflegt. Und noch immer erzählen die Wände neue Geschichten. So wird der Spaziergang durch ein sardisches Dorf zu einer einer Zeitreise durch 50 Jahre mit ihren Ideologien, Träumen und Konflikten. Hier kann man Tage mit der Kamera verbringen und wird immer noch neue Ecken und Spuren der Geschichte eines eigenwilligen sardischen Dorfes finden. deshalb ist auch ein Besuch in Orgosolo Teil des Fotoworkshops Sardinien im Mai 2020. Details gibts hier und im Blog „Fotoworkshop Sardinien“.

Der jahrhundertealte Traum der Banditen: der Durchbruch in eine neue Freiheit.
Nicht nur die Bilder selbst, sondern auch das Nebeneinander von fast unvereinbaren Traditionen macht den Reiz der „Murales“ aus.