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Bewertungssysteme: Die Normalisierung der Lüge

Bewertungssysteme sollen Kunden besser informieren, bevor sie Geld ausgeben. Das ist die Theorie. Tatsächlich gewöhnen sie uns ans Lügen.

Der Kunde als Geisel

Ich lasse einen Reifenwechsel in der Vertragswerkstatt eines deutschen Automobilherstellers machen. Die Reifen sind drauf, die Kiste rollt.

Natürlich bin ich gerne bereit, das auf telefonische Nachfrage zu bestätigen. Etwa so „ja, danke der Nachfrage, es ist alles ok“. So einfach komme ich aber nicht davon. „Wie würden Sie, auf einer Skala von 1 bis 10, unsere Leistung bewerten?“ „Es war alles gut.“

„Meinen sie damit, unsere Leistung war gut, sehr gut, ausgezeichnet oder Hervorragend?“ Spätestens jetzt ist mir klar, dass ich nicht mit der Werkstatt, sondern mit einem Callcenter rede.

„Hervorragend“, sage ich in der irrigen Annahme, damit sei das Gespräch beendet.

„Und wie würden Sie die Freundlichkeit unserer Mitarbeiter bewerten, auf einer Skala von 1 bis 10?“

„Wie beurteilen Sie die Arbeit der Werkstatt? Auf einer Skala von 1-10?“

„Tut mir leid, aber ich habe gerade andere Dinge zu tun“.

Was unterscheidet einen sehr guten Reifenwechsel von einem hervorragenden Reifenwechsel?

Hier wird der Kunde als Geisel genommen, um irgendwelchen idiotischen internen Qualitätsvorgaben zu genügen. Ich möchte doch nicht, dass ein schlechtes Licht auf die Dame am Empfang fällt, die mir den Schlüssel übergeben und „gute Fahrt“ gewünscht hat. War das jetzt „hervorragend“ oder „sehr gut“ oder einfach nur normal? Die Arbeit der Mechaniker kann ich nicht beurteilen. Außer, die Reifen fallen ab. Auch die Mitarbeiter im Callcenter versuchen ja nur, ihre Arbeit  gut zu machen. Aber muss ich mir deshalb meine Zeit stehlen lassen? Denken sich Unternehmen so etwas aus, um ihre Kunden loszuwerden?

Manipulation der Bewertung

Ein gebrochener Knöchel hat auch sein Gutes: die ungeliebte Arbeit im Haushalt ist schlicht unmöglich. Prima, es gibt doch Plattformen, die Putzkräfte vermitteln. Mein erster Putzmann hat super Bewertungen, ist sehr nett, hat zwei linke Hände und ist abhängig von Red Bull. Meine Wohnung nähert sich wieder einem geordnetem Zustand und er kriegt mein WLan wieder hin. Dann löscht die Plattform plötzlich sein Profil, weil er vereinbarte Zeiten nicht eingehalten habe. Er sagt, ein böser Kunde habe ihn reingelegt. Mit leichter Skepsis schreibe ich ihm eine freundliche Bewertung, das Profil geht wieder online. Dann mache ich einen ersten Ausflug, während er in meiner Wohnung arbeitet. Er nutzt die Gelegenheit, um deutlich vor der vereinbarten und bezahlten Zeit zu verschwinden. Offensichtlich verfolgt er eine Optimierungsstrategie mit schnell wechselnden Kunden und Plattformen.

Verhaltensverzerrungen

Ich habe über eine bekannte Plattform eine Unterkunft in einem touristisch nicht sehr interessanten italienischen Dorf gebucht. Es ist November und ich will die Wildpferde auf der Hochebene fotografieren. Die Unterkunft ist mit „außergewöhnlich“ (9,8 von 10) bewertet und liegt günstig für mich. 35 €, Frühstück inklusive, ist in dieser Gegend ein normaler Preis für eine einfache Unterkunft. Luxus gibts hier nicht, den sucht hier auch niemand.

Die freundlichen Gastgeber haben eigenen Wein und Olivenbäume, sie geben mir wertvolle Tipps. Das Zimmer ist klein, aber funktional und hat eine schöne Terrasse. Als ich gerade zu einem Ausflug aufbrechen will schleicht sich die Hofkatze durch die Tür und verschwindet unterm Bett. Auch egal. Ich habe keine Lust, das Tier unter dem Bett hervorzukehren und  sage der Gastgeberin, dass ich die Tür offengelassen habe, damit die Katze wieder raus kann. Für einen kurzen Moment erscheint deutlich Panik und Sorge auf ihrem Gesicht. Fühle ich mich etwa durch die Katze gestört? Nein, ich mag Katzen und kann die Gastgeberin wieder beruhigen. Die Katze behält ihre Freiheit.

Photo by Halanna Halila on Unsplash

Aber der ganze Umgang mit den Gastgebern scheint mir durch die ständige Sorge geprägt zu sein, dass mir irgendwas missfallen könnte. Was mich dazu bringt, immer wieder zu betonen, dass alles zu meiner Zufriedenheit ist. Ich würde mich mit etwas weniger bemühten Gastgebern wohler fühlen. Aber es ist sicher schwer, außerhalb der Hochsaison in dieser Gegend überhaupt Gäste zu bekommen.

Die Katastrophe passiert nach meiner Abreise, völlig unbeabsichtigt. „Bitte bewerten Sie Casa XY“ lautet die Email. Natürlich bekommen die Gastgeber eine ordentliche Bewertung von mir. Aber gegen Ende der Frageliste klingelt das Handy und ich schließe die Seite. Ich hatte ja schon die Höchstnote für Komfort vergeben. Höchster Komfort für 35 € inklusive Frühstück, wer glaubt denn sowas? Um diese Jahreszeit ist es hier kalt und regnerisch, und die alten Häuser haben traditionell keine Heizung. Nur die Klimaanlage bläst heiße Luft ins Zimmer. Egal. Ich will den netten Leuten ihre Spitzenbewertung nicht verderben.

Aber auf der Rückfahrt erreicht mich eine Nachricht der Gastgeber mit der sehr höflichen, aber auch sehr bestimmten Bitte, meine Bewertung zu verbessern. Ich bin verwirrt. Aber auch genervt.

Was war passiert? Ich hatte die letzte Frage nicht beantwortet. Daraufhin ging eine Kategorie mit „0“ in die Gesamtbewertung ein und brachte ausgerechnet am Jahresende die Gesamtbewertung meiner Gastgeber zum Einsturz. Meine Bewertung ergab in der Summe nur ein „sehr gut“. Das Wettrennen um gute Kundenbewertungen hat längst zur Inflation geführt. Das gehört zur Logik des Systems, dass immer bessere Leistungen produzieren will.

Das ist einfach Unsinn. Meine Gastgeber bieten alles, was ich fairerweise erwarten kann. Mehr Aufwand würde sich zu den Konditionen und in dieser Gegend einfach nicht rechnen. Also läßt sich nur noch an der Bewertungsschraube drehen, wenn man den Gast durch demonstratives Bemühtsein zu Übertreibungen motiviert und an sein Gewissen appelliert. Statt sich auf die Gäste zu konzentrieren, denken meine Gastgeber nur noch an ihren Score auf der Plattform. Ich werde diese Unterkunft in Zukunft eher meiden. Der unausgesprochene moralische Druck, der mich für den Score der Gastgeber verantwortlich macht, könnte mir den Aufenthalt vermiesen.

Die Gegenstrategie gegen den Bewertungswahn

Meine Bewertung habe ich gelöscht, aber nicht erneuert. Damit dürfte ich zumindest keinen Schaden angerichtet haben. Die Emails der Fährgesellschaft und eines Hotels mit der Bitte um Bewertung ihrer Leistung landen sofort im Papierkorb. Ich nehme mir vor, in Zukunft alle Bewertungen zu verweigern.

Morgen bringe ich mein Auto in die Inspektion. Ich fürchte einen weiteren Anruf eines Callcenters, obwohl ich die Automarke gewechselt habe. Diese Bewertungs- und Kundenzufriedenheitsseuche ist leider universell. Aber den Reifenwechsel lasse ich in einer kleinen Werkstatt machen, die einfach die Reifen draufmacht und mich in Ruhe läßt.