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Lausitzer Tagebuch: Hoyerswerda

Ich wohne seit 3 Monaten in der Lausitz, wäre aber nicht so schnell auf den Gedanken gekommen, einfach so mal nach Hoyerswerda zu fahren. Der Name ruft unangenehme Erinnerungen an Ereignisse wach, die nunmehr gut 30 Jahre zurückliegen. Was sollte ich in diesem braunen Nest? Hier hat ein aufgehetzter Mob ein Asylbewerberheim angegriffen. Fast hätte es Tote gegeben. Das prägt bis heute das Bild, das sich Menschen von der Stadt machen. Vorurteile sind zäh, wenn sie nicht durch neue Erfahrungen ersetzt werden. Also, wenn ich schon mal da bin, weil ich einen Freund zur Klinik fahre, will ich mir die Stadt mal ansehen oder wenigstens einen Kaffee trinken. Laut Wikipedia hat Hoyerswerda immer noch einen vergleichsweise hohen Anteil an Mitgliedern rechtsradikaler Jugendgruppen. Wie auch immer, im Stadtbild ist davon nichts zu sehen. Ich sehe auch keine trostlosen Leerstände wie in einigen anderen Orten der Region.

Wie in allen Städten und Dörfern der Lausitz, die ich bisher kennengelernt habe, ist die Bebauung in Hoyerswerda großflächig verteilt. Es dominieren große Blöcke von Plattenbauten auf weiten, offenen Flächen am Stadtrand und Gründerzeitarchitektur aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts in der Innenstadt. Diese Bebauung entstand mit den Profiten, die aus dem Braunkohleabbau stammen. Der begann Ende des 19. Jahrhunderts und hat die Region ungefähr 100 Jahre lang bis zum Ende der DDR relativ reich gemacht. Die Häuser sind in der Regel maximal dreistöckig, hübsch, aber nicht protzig und gut renoviert, die Farben unterschiedlich, aber niemals grell. Eine schöne Abstimmung von Pastelltönen. Die Fachwerkaltstadt ging im zweiten Weltkrieg unter. Dort ist jetzt ein großer Parkplatz neben dem Marktplatz mit Weihnachtsmarktbuden. Das Stadtzentrum wirkt einladend und belebt (manche Städtchen der Lausitz wirken menschenleer), es gibt mehrere geöffnete Cafés zur Auswahl und – morgens noch nicht geöffnet – ganz unterschiedliche Restaurants, Thai, Griechen, Italiener und viel einheimische Kost. Das hübsche kleine Café, das ich mir aussuche, ist randvoll. Hoyerswerda wirkt belebter als viele andere Städte und Städtchen, die ich gesehen habe. In einer der Innenstadtstraßen finden sich mehrere Metzger und Bäcker, jeweils mit angeschlossenem Cafés oder Restaurants, keine Handelsketten. Wahrscheinlich sind es Familienunternehmen.

Meiner Erfahrung gibt es gutes und leckeres Essen in der Region, aber einige Imbisse und Restaurants in der schönen Lausitz kultivieren immer noch den Geschmack der DDR, wie ich ihn 1989 kennengelernt habe. Manchmal werben sie damit. Das bedeutet: viel und fettig, ohne Gewürze (außer Salz), mit laschen Bratkartoffeln. Den Kunden scheint’s zu gefallen, ich möchte das nicht weiter kommentieren. Ich lerne langsam, wo das Essen gut bis hervorragend ist. In aller Regel sind kleine, inhabergeführte Lokale sehr individuell ausgestattet und um ihre Gäste bemüht, mit gutem Essen. Wein ist in der Region leider eher unbekannt. Meiden.

Ich gehe in eine kleine spätgotische Kirche, deren Türen weit offensten. Ein älterer Herr sitzt am Eingang vor ausgelegten Prospekten der Region und scheint sich darüber zu freuen, dass wenigstens ein Besucher Interesse zeigt. Nach einiger Zeit spricht er mich an, wir unterhalten uns lange über die DDR, die Unterschiede der Mentalitäten Ost und West usw. Natürlich erkennt er mich an meinem hessischen Akzent sofort als Westgewächs. Bevor ich gehe, möchte er noch ein Stück auf der Orgel spielen. Das gotische Kirchenschiff hat eine wunderbare Akustik. 1955 haben Handwerker ohne Lohn und mit Spenden der Bürger die Kirche wieder aufgebaut. Auch das war in der DDR möglich. Historie, die irgendwas mit Preußen zu tun hatte, galt als erhaltenswert.

Nach der Wende herrschten großer Optimismus und Aufbruchstimmung. Diese Stimmung hielt ein paar Jahre an. Es entstanden viele neue Unternehmen, Läden, Restaurants, alle denkbaren Dienstleistungen, die Innenstädte belebten sich. Das ging so lange, bis im Hintergrund die Industrie, die die Region trug, nach und nach in sich zusammenbrach. Dieser Prozess dauerte mehrere Jahre, in denen erst noch Optimismus überwog. Die Menschen hier berichten also immer wieder von einer Nachwendezeit, in der es einmal besser war als es heute ist.

Der Braunkohlebergbau geht bis heute weiter, aber alles, was einst in der DDR davon abhing und sonstige Produktion waren nicht konkurrenzfähig. Brikettfabriken, Glasindustrie, Weberei, Maschinenfabriken schrumpften und lösten sich auf. Zuerst schwanden die Servicetruppen, die jeder Industriebetrieb der DDR brauchte. Eigene Bautrupps, eigene Elektriker, eigene Erholungsheime und Kindergärten etc. wurden eingespart. Aber die industrielle Struktur war durch Sparmaßnahmen nicht zu retten. Damit war der Region die Kaufkraft genommen. Die Jüngeren und gut Qualifizierten suchten sich Arbeitsplätze im Westen und der ganze schöne Wendeboom brach zusammen. Restaurants und Läden verschwanden wieder, die Einwohnerzahl ging bis zu 50% zurück, die Innenstädte wurden trotz der Hilfsgelder, die großzügig in die Region flossen, immer trostloser. Die Menschen durchliefen ohne große Hoffnung Qualifizierungsmaßnahmen und fanden sich schließlich in Jobs, die nichts mehr mit ihrer Ausbildung zu tun hatten. Investitionen aus dem Westen endeten meist in Enttäuschungen. Bisher habe ich in dieser Region keine Erfolgsgeschichten gehört.

Diese Entwicklung kehrt sich nun wieder um. Die Region siedelt gezielt regenerative Hochtechnologie an. Die „Schwarze Pumpe“, ein Braunkohlekraftwerk mit seinen riesigen, rauchenden Kühltürmen ist fast in der ganzen Region sichtbar. Das Unternehmen steht wie kein anderer Betrieb für die alte, dreckige Braunkohlenindustrie der Region. Heute ist es nicht nur von Windrädern umgeben. Das Unternehmen arbeitet als erstes weltweit daran, Wasserstofftechnologie im Großformat zur Energiegewinnung einzusetzen. Um solche Initiativen gruppieren sich viele kleine Technologieunternehmen. Es gibt also eine Reindustriealisierung, die allerdings einen totalen Bruch mit den alten Strukturen darstellt. Es gab keine Transformation. Grob gesagt wurde erst mal alles in Klump gehauen, um dann auf der Basis ganz anderer Technologien wieder von unten anzufangen. Die Innenstädte beleben sich wieder. Die Region bleibt dem Thema „Energie“, das sie groß gemacht hat, auch in Zukunft treu. Von Braunkohle zu Wasserstoff. Wissenstransfer ist da wohl nicht möglich.

Aber der Braunkohlebergbau mit seinen brutalen Eingriffen in die Landschaft hat nicht nur negative Folgen. Die ausgedehnte Seenlandschaft der Lausitz basiert ausschließlich auf vollgelaufenen alten Tagebaulandschaften. Das ist ein jahrzehntelanger Prozess, die Seen müssen aufwendig von teils giftigen ausgewaschenen Mineralien gereinigt werden. Aber für weite Flächen ist dieser Prozess jetzt abgeschlossen, die Seen wirken fast natürlich und bieten Sandstrände und Flächen für Wassersport. Auch  auf den öden kilometerbreiten Brachflächen der letzten noch aktiven Tagebaue  wie Welzow Süd entstehen gerade durch Aufschüttungen neue Landschaften, während am anderen Ende noch Braunkohle abgebaggert wird. Der Braunkohleabbau erfordert ein aufwendige, komplexe Technologie in riesigen Dimensionen. Die Menschen hier sind stolz darauf, was sie da geschaffen haben. Aber das Ende steht fest. Es wird keine Weiterentwicklung mehr geben.

Auf dem neu aufgeschütteten Land kann man nur mit erheblichen Mehrkosten Häuser bauen, da der Grund zu locker ist und teils unberechenbar nachrutscht. Also entstehen Seen, weite Terrassen, Wälder, Weinberge und Naturschutzgebiete. Die Landschaft ist nach dem Tagebau attraktiver, als sie vorher war. Oft sind aber nur die befestigten Wege frei gegeben, das Land dazwischen kann noch unvorhersehbar nachsacken. Die Landschaft ist voll von Warnschildern.

Die Bevölkerung wächst langsam wieder. Auf dem platten Land sind die Baugrundstücke immer noch billig, also ist für die in den 90er-Jahren und später abgewanderten der Rückzug eine Überlegung wert, insbesondere für junge Familien, die günstigen Wohnraum suchen. Alles hängt nun davon ab, ob das Thema regenerative Energien hier in der Region nachhaltig Fuß fassen kann.

Immer wieder höre ich das Wort Heimat. Oder: Man hat doch so seine Erinnerungen. Man lernt und spricht sogar wieder wendisch und sorbisch, die endemischen slawischen Sprachen der Region, die mit dem tschechischen verwandt sind. Die alten Ortsnamen stehen neben den deutschen Namen auf den Ortsschildern. Aber etwa 150 Dörfer wurden in den letzten Jahrzehnten abgebaggert und sind endgültig verloren, mit teils traumatischen Folgen für die Bewohner. Das ist gestoppt, aber die Region wird noch viele Jahre oder Jahrzehnte brauchen, bis sie sich von der politischen und der energiepolitischen Wende vollständig erholt hat.